Verdammt zu Größe und Wachstum? Strukturwandel im Einzelhandel seit den 1950er Jahren

Verdammt zu Größe und Wachstum? Strukturwandel im Einzelhandel seit den 1950er Jahren

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V., Frankfurt am Main
Ort
Mettingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2020 - 08.10.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Gottschalk, Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V., Frankfurt am Main

Der Einzelhandel und der individuelle Konsum stehen wie kaum ein zweites Phänomen für die Möglichkeiten, die sich durch das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland ergaben. Ihre Reichweite schwankt zwischen dem Massenkonsum der frühen fordistischen Jahre und der zunehmenden Spezialisierung im ausgehenden 20. Jahrhundert bis zu den unzählbaren Möglichkeiten des gegenwärtigen Onlinehandels. Damit einher gingen große Herausforderungen für die unzähligen AkteurInnen im Einzelhandel, die sich einem steten Strukturwandel ausgesetzt sahen und sehen.

Das 43. wissenschaftliche Symposium der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. beschäftigte sich mit Fragen des Strukturwandels im Einzelhandel gestern und heute. Die Vielfalt der Vorträge sollte den unterschiedlichen Formen und Bereichen des Einzelhandels gerecht werden. Unter den Vortragenden fanden sich daher nicht nur HistorikerInnen, sondern auch Fachleute aus der Wirtschaft, die zum Teil auf die aktuellen Phänomene der Corona-Zeit eingingen und einen Blick in die Zukunft wagten.

Martin Rudolf Brenninkmeijer (Mettingen) begrüßte die Teilnehmenden im Namen der Draiflessen Collection gGmbH, und Cornelia Rauh (Hannover) hieß sie auch im Namen der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte willkommen. Sie leitete kurz in das Thema Einzelhandel ein und hob die Wichtigkeit einer Fortsetzung des wissenschaftlichen Austauschs auch während einer Pandemie hervor. Die Aufarbeitung der NS-Zeit im Einzelhandel war ein besonders wichtiger Bestandteil für die Entstehung einer soliden Unternehmensgeschichte. Die Einführung von Jonathan Voges (Hannover) drehte sich um Entwicklungen in den Medien vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Faktoren für einen Strukturwandel konnte er so am aktuellen Beispiel veranschaulichen. Er verwies dabei auf zahlreiche Beispiele aus seiner Forschung, die er als „Revolutionen des Handels“ begreift und präsentierte diese in der Form eines Evolutionsmodells.

TIMO RENZ (München) sprach von den aktuellen Herausforderungen für den Handel im digitalen (Corona-)Zeitalter. Dabei lag der Schwerpunkt auf den Familienunternehmen des Mittelstands, Retail 4.0, den Auswirkungen von Corona auf Retail 4.0 und die neuen Entscheidungsfelder für das Management. Die Corona-Pandemie beschleunige und verstärke die Herausforderungen für den Handel deutlich. Vor allem Fragen der Gesundheit, der Sicherheit und der Gefährdung im Alter rückten neu in den Fokus des Handels. Der Kunde im Corona-Zeitalter kaufe seltener ein, dafür mehr auf einmal. Abschließend sprach Renz über neue Herausforderungen im Management. Die digitale Transformation solle noch viel stärker in den Fokus rücken, um Markt- und Kundenbedürfnisse zu erfüllen.

Als Vorsitzende der neuen Laudes Stiftung stellte LESLIE JOHNSTON (Zug) die Auswirkungen von Corona auf die Bekleidungsindustrie dar. Sie summierte die Probleme im Zuge der Corona-Pandemie und stellte neun Projekte der Laudes Foundation vor, mit denen die Ziele Nachhaltigkeit und Innovationen gezielt gefördert werden sollen. In Ihrem Fazit betonte Johnston die Wichtigkeit des Wandels im Einzelhandel und die Rolle, die die Laudes Foundation dabei spielen möchte. Sie appellierte an die Anwesenden, sich mit ihren individuellen Konsumentscheidungen in diesen einzubringen.

In der anschließenden Diskussion mit den beiden ReferentInnen aus der Wirtschaft ging es vor allem um den Blick in die Vergangenheit. Probleme und Herausforderungen der Gegenwart können aus den Erwartungen und Trends der Vergangenheit hergeleitet werden. Auf langfristige Trends in der Geschichte wiesen die anwesenden UnternehmenshistorikerInnen hin, die sich teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.

CHRISTIAN RAFFLENBEUL-SCHAUB (Braunschweig/Wolfenbüttel) hielt einen Vortrag über die Folgen der dynamischen Prozesse im Einzelhandel für die Beschäftigung in der Zeit von 1960 bis 2017. Sein zentrales Erkenntnisinteresse lag dabei auf der Frage nach Beschäftigungsprozessen, dem Vordringen personalintensiver Betriebsformen und der dadurch allgemein vermuteten Verdrängung von anderen Berufen. Er veranschaulichte die unterschiedlichen Entwicklungen im Lebensmitteleinzelhandel und deren zeitlichen Horizont. Anhand diverser Grafiken und auf einer breiten empirischen Basis konnte er die vielen verschiedenen Entwicklungen der Einzelhändler veranschaulichen. In einem zweiten Teil analysierte er die unterschiedlichen Phänomene der Beschäftigung im Einzelhandel und stellte zahlreiche Graphiken vor. Die Ergebnisse vor und nach 1989/90 unterscheiden sich deutlich. Vor 1990 war ein stetiges Wachstum nachweisbar. Nach der Wende ist eine Tendenz zur Teilzeit erkennbar, die als einzige Beschäftigungsform kontinuierlich wuchs. Insgesamt war die Beschäftigung entgegen den allgemeinen Annahmen keineswegs rückläufig, sondern stieg kontinuierlich. Letztlich war das stetig wachsende Gesamtvolumen des Konsums ein wichtiger Faktor für das Ausbleiben von größeren Beschäftigungsrückgängen. Die Rückgänge wurden überkompensiert durch andere Trends.

FREDERIC STEINFELD (Göteborg) beschrieb die nationale (schwedische) Markterschließung des „unmöglichen Möbelhauses“ IKEA zwischen 1950 und 1970 als Aufstieg eines Davids, der sich gegen mehrere Goliaths behaupten musste. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in Schweden zahlreiche Wohnungsbauprojekte initiiert, die eine erhöhte Nachfrage nach neuen, zweckmäßigen und preisgünstigen Möbelstücken auslösten. IKEA, damals vor allem Versandhändler, setzte konsequent auf kleinere Schreinerbetriebe. Der Mangel an verfügbaren Großproduzenten erschwerte jedoch die Expansion des damaligen Versandgeschäftes. IKEA konnte zwar seine Preis-, nicht aber seine Verfügbarkeitsgarantien einhalten. Auf das schwindende Vertrauen der Kunden reagierte der Konzern 1952 mit der Gründung eines Ausstellungsraums und 1958 mit einer ersten Filiale für den direkten Verkauf. Die Maximierung von Skaleneffekten stand dabei von Beginn an im Mittelpunkt, um die Preise möglichst niedrig zu halten. Weitere Optimierungen erreichte IKEA durch Verbesserungen bei der Verpackung und einem geringeren Serviceportfolio. In den 1960er Jahren gründete IKEA zunehmend Filialen auf der grünen Wiese und hatte damit großen Erfolg. Mit der weiteren Expansion in die ganze Welt war der schwedische David zum Goliath geworden.

MANUELA RIENKS (München) stellte Strategien des Textileinzelhandels zwischen Massenkonsum und Exklusivität seit den 1950er Jahren vor. Im Zuge ihrer Dissertation untersucht sie den Wandel der Arbeitswelt von Frauen unter den Gesichtspunkten der Sozial- und Geschlechtergeschichte. Der Textileinzelhandel balancierte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Massenmarkt im Bereich der Selbstbedienung (SB) und Exklusivität im gehobenen Segment. Die Strategien schlossen sich jedoch, je nach Geschäftsmodell, nicht gegenseitig aus. Im Massenkonsum wurden häufig weibliche Mitarbeiterinnen marginalisiert und anonymisiert. Die eher männlich geprägte exklusive Strategie erhöhte die Anforderungen an das Personal. Bei Mischformen war dies besonders deutlich, da männliche Angestellte die Kundschaft berieten und weibliche Mitarbeiterinnen häufig ausschließlich Dienste an der Kasse oder im Lager durchführten. Rienks veranschaulichte diese Beobachtungen an mehreren Beispielen. Im weiteren Zeitverlauf nahm die SB-Abteilung zunehmend zu, und damit einhergehend wurden immer mehr Frauen beschäftigt. Abschließend resümierte die Vortragende, dass es verschiedene Strategien des Textileinzelhandels gab, um auf den Strukturwandel zu reagieren. Insgesamt war es eine ambivalente Entwicklung, die Unterschiede nivellierte und in einer Persistenz sozialer Ungleichheit resultierte.

UWE STIFTEL (Marburg) beschäftigte sich mit der Neuordnung des Arzneimittelmarktes ab 1968 und dessen Auswirkungen auf das Apothekengewerbe. Zentrale Fragen waren die nach der Besonderheit und der Regulierung des Apothekengewerbes sowie die nach den AkteurInnen in diesen Feldern. Die Vorgaben für die ApothekerInnen waren im Apothekengesetz geregelt, das zwischen Parteien, ÄrztInnen und Apotheken ausgehandelt wurde. Stiftel hob die großen Einschränkungen für Apotheken im SB-Bereich hervor. Ein großer Schub für die Entwicklung der Zahl der Apotheken erfolgte Ende der 1950er Jahre, als das Bundesverfassungsgericht viele Beschränkungen für die Gründung von Apotheken aufhob. 1968 sollten viele Regelungen in einem Arbeitskreis neu gefasst werden. Der Arbeitskreis strebte in seinem 1972 vorgestellten Modell ein faires Verhältnis zwischen Verbraucherpreisen und der Sicherung der Existenz von Apotheken an. Im Resultat sanken die Einnahmen der Apotheken um zwei Prozent, jedoch wurde durch die einheitliche Preisgestaltung die zentrale Forderung der ApothekerInnen durchgesetzt. Im Fazit kam Stiftel auf die Herausforderungen der Gegenwart zurück, die das Apothekengewerbe belasten.

Die Dortmunder Brauereien standen im Zentrum von NANCY BODDENs (Bochum) Vortrag über Billigbier und Lockvogelangebote in der Bierbranche. Den Weg zu einer modernen und zukunftsfähigen Absatzstrategie verbauten sich die Dortmunder Brauer selbst durch ein zu starkes Beharren auf überkommenen Marketingstrategien und vermeintlich starken Absprachen untereinander. Die Überzeugung vom eigenen Produkt und dessen Überlegenheit erwies sich für die Brauereien als Trugschluss, den die Einzelhändler nutzen konnten, um durch Lockangebote auf Basis des Einkaufspreises Kunden- und Konsumverhalten zu ihren Gunsten zu verändern. Diese Tendenzen wurden durch die Einführung von Flaschenbier und die sich ändernden Konsumgewohnheiten (Bier wurde zunehmend an Privatpersonen verkauft) beschleunigt und verstärkt. Durch den seit den 1960er Jahren einsetzenden Abschwung des Bierkonsums wurde der Markt umkämpfter und ein Verdrängungswettbewerb begann. Auf der Basis dieser Entwicklungen sanken die Kosten für die KonsumentInnen, was zu Lasten der Brauer ging. Kleinere und mittlere Brauereien kamen schnell an den Rand der Rentabilität und forcierten den Konzentrationsprozess der Brauwirtschaft. In ihrem Fazit betonte Bodden die gestärkte Rolle des Handels gegenüber den Brauereien, der in seiner Rolle als eigeninteressierter Akteur besonders seine Macht und die Abhängigkeit der Brauereien gegen diese ausspielte.

An der abschließenden Podiumsdiskussion unter der Moderation von Christian Kleinschmidt (Marburg) nahmen Ralf Banken (Frankfurt am Main), Martin Rudolf Brenninkmeijer und Jonathan Voges teil, die vor dem Hintergrund der Vorträge die Ausgangsfrage der Veranstaltung besprachen. Brenninkmeijer betonte die Perspektive des C&A-Konzerns, vor allem im Zuge der Wende, als starken Drang zu weiterem Wachstum. Er thematisierte außerdem Corona als Chance, Stadtmitten neu zu denken. Banken vertrat die Ansicht, dass HistorikerInnen die Differenziertheit von Tendenzen bei Wachstum und Schrumpfung gut darstellen können. Entwicklungen lösten sich zwar ab, existierten aber gleichzeitig auch parallel nebeneinander fort. Die Nachfragemacht der KundInnen durchbricht die häufig vermutete Eindimensionalität und zunehmende Konzentration an vielen Stellen. Er betonte Markenbewusstsein und Kaufentscheidungen als Triebfedern der Entwicklungen, die noch weiterer Forschung bedürfen. Voges verteidigte die teilweise revolutionären Entwicklungen im Einzelhandel gegen die Beliebigkeit, limitierte sie jedoch auf das Segment der von ihm erforschten Bau- und Handwerkermärkte.

Angesprochen auf den Beginn einer neuen Epoche, benannte Brenninkmeijer die Digitalisierung als stärksten Faktor mit einer revolutionären Qualität. Im Hinblick auf die Notwendigkeit von Compliance- und CSR-Richtlinien forderte er die Branche zum Handeln auf und hob die bereits im eigenen Unternehmen ergriffenen Schritte hervor. Profit sollte es seiner Ansicht nach nicht mehr ohne den Anspruch auf zeitnahe Nachhaltigkeit geben. Banken leitete diese Entwicklungen aus der Vergangenheit her und stellte sie in eine Linie mit den vergangenen Niedergangsszenarien. Für den Einzelhandel stellte er Forschungspotentiale im Bereich KundInnen, Räume und Entwicklungen heraus. Brenninkmeijer skizzierte abschließend die Motivation seiner Familie, ihre Geschichte zu erforschen und Werte weiterzugeben. Neue Generationen werden Fragen zum eigentlichen Zweck des Unternehmens stellen und wissen wollen, mit welcher Herangehensweise die Vorfahren an das Unternehmen herantraten.

Konferenzübersicht

Timo Renz (Dr. Wieselhuber & Partner, München): Herausforderungen für den Handel im digitalen (Corona-)Zeitalter

Leslie Johnston (Laudes Foundation, Zug): Building Back Better: What COVID means for the Fashion Industry

Christian Rafflenbeul-Schaub (Braunschweig/Wolfenbüttel): Die Folgen der Dynamik im Einzelhandel für die Beschäftigung – eine Analyse für die Zeit von 1960 bis 2017

Frederic Steinfeld (Göteborg): Das „unmögliche Möbelhaus“? IKEAs nationale Markterschließung, 1950-1970

Manuela Rienks (Institut für Zeitgeschichte, München): Von der Stange anprobiert oder von Herrn Gschwedtner abgesteckt – Strategien des Textileinzelhandels seit den 1950er Jahren zwischen Massenkonsum und Exklusivität

Nancy Bodden (Bochum): Billigbier und Lockvogelangebote. Der gnadenlose Preiskampf des Lebensmitteleinzelhandels und die Ohnmacht der Dortmunder Brauereien in den 1960er und 1970er Jahren

Podiumsdiskussion
Christian Kleinschmidt (Marburg), Ralf Banken (Frankfurt am Main), Martin-Rudolf Brenninkmeijer (Mettingen), Jonathan Voges (Hannover)


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